Das Individuum zwischen Intuition und Institution

 "Sie haben in Ihrem letzten Posting aus der Hermeneutik als Sinnfrage etwas ausgeblendet, mein Lieber!", sagt Niklas Hardenberg vorwurfsvoll, und ich wünsche mir, er wäre schon in der Realität der freien Kulturszene angekommen, hätte seinen Platz in einem freien Theater eingenommen und würde als Dramaturg, Öffentlichkeitsarbeiter und Mädchen für alles wirken. Da hätte er keine Zeit mehr, mein letztes Posting anzusprechen. Ich weiß, was er meint, aber ich würde es am liebsten ausgeblendet lassen: die Hermeneutik als die Kunst des Bibelverstehens. Die Kunst, sich damit zu beschäftigen, was Offenbarung ist, ohne dass ihr Sinn offenbar wäre. Wir sind im 21. Jahrhundert, da hat die Spiritualität ein anderes Gewicht, irgendwie ist sie viel leichter, hat ein monetär gewordenes Vielleicht mit vorgeschalteter Werbung auf youtube. Die Klickzahlen zählen, die Anzahl der Aufrufe, und es ist nicht daraus ersichtlich, wer wieviel davon gesehen, geschweige denn verstanden hat, wer wieviel Inhalt mitgenommen hat, ohne der Bitte des Kanalbetreibers zu folgen, ein "Like" zu hinterlassen oder gar einen Kommentar. "Sie schweifen ab!", sagt Hardenberg. "Ja", erwidere ich, "ich bin ein Spaziergänger der Gedanken!" Dem hat Hardenberg etwas hinzuzufügen: "Stock und Hut stehen Ihnen gut und Hunde seien auch dabei. Spielen wir ruhig auf die Tarot-Karte Null an. Ihnen gefällt die Rolle des Narren, nach Nietzsches Motto 'Nur Narr, nur Dichter'. Aber in Ihnen ist eine Ambivalenz, die wir auch Dialektik nennen können. So kommen wir vielleicht aus der psychopathologischen Starre heraus, ohne die Hilfe eines Therapeuten. Oder genauer:  ohne die Hilfe eines, das möchte ich betonen: professionellen Therapeuten."

"Da sagen Sie was! Ich verzweifle daran, dass alles, was fließt, was im Fluss sein könnte und sein sollte, versteinert. 'Professionalität' wird groß geschrieben und die Liebe wird zum Geschäft." "New Economy", sagt Hardenberg und spaziert mit mir gemeinsam: "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen... und wo ist sie nicht zur Herrschaft gekommen? ...hat alle zwischenmenschlichen Bande zerrissen und hat nichts übrig gelassen als das Geld, das nackte Interesse nach Profit. So ist alles professionalisiert. Frei nach dem 'Kommunistischen Manifest'. Huuups! Das hätte ich nicht sagen dürfen. Alte Erkenntnisse sind eben alt, was soviel bedeutet wie: über das Verfallsdatum." "Versteinerte Verhältnisse", sage ich, "und in mir die Melancholie der Ohnmacht, dass selbst eine Packung Salz ein Verfallsdatum hat." "In Ihnen die Melancholie, dass nichts ewig währt und auch der, der schreibt, nicht bleibt!", entgegnet Hardenberg. Was soll ich sagen? Recht hat er! Was vor uns liegt, ist nicht in Stein gehauen, nicht einmal auf Papier gedruckt, seit der Elektrifizierung der Schrift alles im Schwebezustand der Virtualität. Da hämmern keine Bleibuchstaben mechanisch Ideen auf ein Farbband und dadurch aufs Papier. Da gehen keine Typoskripte mehr per Post auf die Reise. "Sie tippen mit dem Finger auf die magische Glasscheibe Ihres Tablets und der Text ist veröffentlicht. Lesbar für alle und vernichtbar ebenso schnell für alle Zeiten. In der Wolke, das ist New Idealsm. Natürlich gepaart mit New Economy: Google, Blogger, WordPress. Und Sie sind ein Mann des vergangenen Jahrhunderts, aber schon in der dialektischen Überwindung der Moderne. Ich mag das Wort 'Postmoderne' nicht. Ich habe neulich erst das Wort 'Transmoderne' gehört, was mir deutlich besser gefällt, aber wir sind noch zu nahe an der Moderne im Sinne von Gegenwart, um transavantgardistisch zu sein." "Ist das eine neue Jenseitigkeit?", frage ich Niklas Hardenberg. 

"Nein", antwortet er, "Bewusstseinsimmanenz pur! Ein bewusstseinsreflexiver Idealismus, eine Art des Selbstbewusstseins in einer Zeit des amnesiven Taumels." Dazu muss Hardenberg grinsen, sonst wäre er kein Niklas Hardenberg. In den heiteren Momenten meines Lebens erfreue ich mich an ihm. Wie gut, dass es ihn gibt, und dass wir uns auf einen Spaziergang gemacht haben.

"Spaziergang?", mumelt er, "alles in Ihrem Leben ein literarischer, gedanklicher Spaziergang. Ich möchte den Begriff des Philosophischen dazu gar nicht erst bemühen." "Ja, bemühen Sie sich bitte nicht! Es ist ja nicht so, dass erst mit Ihnen der Zweifel in mein Leben gezogen wäre. Seit ich sprechen kann, führe ich Selbstgespräche. Und diese sind nur möglich, wo der Zweifel im Kopf und in der Seele eines Menschen zuhause ist. Ich kann nicht sagen, dass sich der Zweifel erst entwickelt hat wie aus dem schieren Nichts, aus einer einzigen, winzigen, unsichtbaren Zelle, die sich zu teilen beginnt und vermehrt und wächst und wächst wie ein Geschwür. Ich würde sagen, er war schon immer da wie meine Gliedmaßen, meine Organe, mein Körper, und ich kann nur hoffen, dass er sich wenigstens in seiner Ontogenese entwickelt und ausgebildet hat.

"Sie reden solch einen elaborierten Quatsch! Sie könnten tatsächlich ein Philosoph genannt werden", sagt Hardenberg. "Ontogenese bedeutet doch, dass sich ein Lebewesen aus einer Zelle zu einem geschlechtsreifen Individuum entwickelt." "Das liegt an meiner Selbstwahrnehmung wahrscheinlich seit ich denken kann", erwidere ich. "Denn ich bin ich, seit ich denken kann, es ist völlig egal, wie weit ich zurück denke: ich bin ich und bleibe ich." "Das ist die Illusion der Identität", erklärt Hardenberg. Er hat gut reden, er ist meine Illusion seiner Existenz. "Die Fiktionsphilosophie hat es Ihnen angetan", lacht er, "Sie haben es bis zur 'Maschine des Selbstgesprächs" gesteigert, aber zu den Inhalten dieser Maschine können Sie nicht mehr stehen, nehme ich an." "Das bedürfte der Wahrnehmung einer Diskontinuität", stelle ich fest, "es wäre so schön, wenn ich diese Sprünge bemerken würde. Ich aber habe die Befürchtung, dass diese Diskontinuitäten Erinnerungslücken sind. Das Philosophieren, lieber Hardenberg, hat womöglich mit einem übermächtigen und zugleich zutiefst verunsicherten Ego zu tun. Die Liebe zur Selbsterkenntnis nach dem Motto des Delphischen Orakels 'Erkenne dich selbst!' wird zum Lebensanker und Mittelpunkt. Und alles kreist und schreibt um dieses Ego." "Eine neue Ich-Philosophie", lacht Hardenberg, und ich weiß nicht genau, ob alles nur Hohn ist, was er mir entgegenhalten möchte. Hardenberg als meine innere Stimme der Selbstverhöhnung. Dabei wollte ich mit ihm im Projekt hinaus in die Welt der freien Kulturszene, um so vielen Nicht-Ichs wie möglich zu begegnen. "Der deutsche Idealismus wird in Ihnen nicht inkarnieren", sagt er eisern, "Sie können mich Hardenberg nennen, Niklas oder Diogenes Hasenfuß! So heißt doch die etwas zynische innere Stimme Ihres Ich-Erzählers in Ihrem Labyrinth-Roman." "Sie meinen, egal, wie ich Sie nenne, Sie sind immer Sie?" "Ja, weil Sie immer Sie sind!" "Ach!" Und dieses 'Ach', das muss ich dazu sagen, ist weniger ein Staunen oder gar ein ironisches Staunen, es ist mehr ein Stöhnen, eine Emphase faustischen Klagens durchaus mit Schmerz und Trauer existenziellen Ausmaßes: ich bin ich geblieben und nähere mich doch dem Tode.

"Ist es kein Trost für Sie, dass Sie sich entwickelt haben, gelebt, geliebt, gealtert?"

"Nichts davon geht ohne ein Gegenüber", sage ich. "Nichts davon geht ohne Nicht-Ich!" "Ja, genau!", ruft Niklas Hardenberg enthusiastisch: "Darum haben Sie doch mich! Und ich füge in Paranthese hinzu: (erschaffen)!" Und er lacht und lacht.

Damit ihm das Lachen vergehe, gifte ich: "Und darum werde ich Sie durch die freie Szene des Ruhrgebiets führen!" "Oh ja", ruft Hardenberg, "Von Allem im Überfluss und in Selbstausbeutung!" "Sie persiflieren den 'Kulturinfarkt'!", stelle ich in schier drohender Sachlichkeit fest. Ich hätte nicht gedacht, dass sich das Hardenberg-Projekt in diese Richtung entwickelt, als ich es ins Leben rief. Ein halbes Jahrzehnt ist es her, und so sehe ich, wie ich dem Tod entgegengehe. "Ein bisschen Allgemeines im Besonderen darf es schon sein", sagt Hardenberg. "Lassen Sie den Kopf nicht hängen!"

Rollentausch: "Den bleiernen Kugelkopf, der auf das Carbon-Band hämmert", erwidere ich.

"Wir drehen uns im Kreis wie Derwische im Tanz um höhere Erkenntnis", kontert Niklas Hardenberg. 

Das alles ist ein Teil der Welt des Nicht-Ichs. Ich bin nicht einsam, wenn auch ohne Widerhall. 

Nichts ist eine größere Lüge als die Rede von der freien Kulturszene. Es gibt die subventionierte Kultur, die kommerzielle Kultur der Kulturindustrie, aber eine freie Kultur gibt es nicht. Die einen sind abhängig von Subventionen und Projektmitteln, wofür sie sich zwanghaft Projekte ausdenken und diese durch Jurys bringen müssen, wobei teilweise eine Jury gefällige Kultur entsteht, und die anderen sind heillos abhängig vom Publikumsgeschmack, den sie durch Werbeagenturen zu manipulieren suchen. In diesen Zusammenhängen von 'Freiheit' zu sprechen, ist Zynismus pur. Der Kulturinfarkt wäre längst real, wenn man nur wüsste, wo das Herz der Kultur schlägt und wie ihr Infarkt aussieht. "Aber lassen wir uns von einer solchen Bestandsaufnahme nicht irritieren", sagt Hardenberg. "Suchen wir Orte des Nicht-Ichs auf!"

Aber dann fällt ihm doch noch etwas ein: "...ich bin zur ständigen Vertretung der Romantik in der Realität geworden, jemand auf verlorenem Posten... ich - nur Narr, nur Dichter!" Ich stutze. Das ist ein Zitat aus meiner Homepage. Hardenberg erklärt: "Sie bringen die beiden Tarot-Karten: die Null=der Narr und die Eins=Der Magier in Beziehung zueinander; die Rolle des Narren sahen Sie auch in Ihrer Hölderlin-Deutung." "Aber durchaus positiv", werfe ich ein. "Ja, durchaus. Wir haben eine Abneigung gegen Institutionen, nicht gegen Narren und Dichter. Letzteren wohnt Freiheit inne: Gedankenfreiheit, Redefreiheit, Kunstfreiheit. Kurzum: die Narrenfreiheit." Ich stutze wieder, aber dieses Mal durchaus erfreut: "Haben Sie soeben 'wir' gesagt?" "Auch wenn ich Ihr dialektisches Gegenüber bin, das antithetische Alterego, möchte ich nicht in der Einschätzung der Institutionen auf der Seite dieser landen! Auch wenn ich mich in der freien Kulturszene zu manifestieren gedenke."

"Ich habe eine Anmerkung zu Ihrer Formulierung zu machen: ich sympathisiere mit der Metapher der 'ständigen Vertrteung der Romantik', nur über die Verortung müssen wir uns noch unterhalten: warum die sofortige Be- und Abwertung als 'verlorener Posten'? Sie sind die ständige Vertreteung der Romantik in der Gegenwart, in der Moderne oder von mir aus in der Realität." "Über 'Gegenwart' und 'Realität' können wir reden, den Ausdruck der 'Moderne' möchte ich als Epochenbezeichnung lassen und würde ihn in unserem Zusammenhang nicht verwenden wollen." "Einverstanden", sagt Niklas Hardenberg, "ich meinte zwar 'Moderne' im Sinne der Gegenwart und Gegegwärtigkeit mit der positiven Note des Up-to-Date-Seins, aber ich verstehe Ihren Einwand. "Aber Ihre Formulierung 'auf verlorenem Posten' klingt mir zu resignativ. Ich will in keine Realität der Resignation. Wir können aber, um die schwierige Situation zu verdeutlichen auch von 'Positivismus' sprechen, 'Technokratie' und 'Kapitalismus'. Diese Ausdrücke haben eine analytische Konnotation in bezug auf die Gegenwart. Der 'verlorene Posten' versetzt uns zu früh in eine resignativ-defensive Lage."

Nun sind Hardenberg und ich ein 'Wir', es gibt ein 'Uns', das Verhältnis ist als ein antithetisches Alterego definiert. Ich fühle mich geehrt und gestärkt. So entstehen Illusionen aus Sehnsüchten, mag manch einer denken. Ich meine, dass ein Ich und ein Alterego in dialektischem Verhältnis eine neue Realität schaffen können. Der Blick auf die Kulturszene ändert sich.

Aber neben dem Verhältnis zwischen Niklas Hardenberg und mir geht es mit den ins Spiel gebrachten Tarot-Karten noch um etwas anderes: die Null und die Eins lassen sich als die Grundelemente des binären Systems deuten. Mit den entsprechenden Grundregeln lassen sich Welten von Phänomenen generieren, wie die Entwicklung der Computertechnologie in weniger als einem halben Jahrhundert vor Augen geführt hat. Analog dazu, so meine Grundthese, können der Magier und der Narr sich zu einem System zusammenschließen. "Interessant", sagt Hardenberg, "an was für ein System haben Sie gedacht?

"Natürlich an ein offenes! Nicht an ein institutionell versteinertes System. Natürlich brauchen wir ein Knochengerüst. Aber ohne Arthrose, sondern voller Gelenkigkeit. Dafür steht der Magier. Wir brauchen Institutionen und wir brauchen Bewegung,  Dynamik, Lebendigkeit. Wir brauchen die Eins und die Null, den Narren in der Wanderschaft, und den Magier am Tisch mit Rankgewächsen und der magischen Schriftrolle. Ein Hölderlin auf sich zurückgeworfen, landet im Turm. Wo aber sind seine Freunde Hegel und Schelling geblieben? Haben sie ihn je besucht? Oder sind sie im eitlen Glanz ihrer Institutionen untergegangen? 


Kommentare

  1. Ein Spaziergang zwischen Intuition und Institution – oder sollte ich sagen, eine philosophische Polonaise mit Hardenberg als Tanzpartner? Während die Hermeneutik sich auf YouTube zwischen Werbung und Klickzahlen verirrt, bleibt die Frage: Sind wir Närrinnen oder Magierinnen im binären System der Kulturindustrie? Vielleicht ist die freie Kulturszene wirklich nur eine Null – aber solange Uri über sie philosophiert, ist sie wenigstens nicht versteinert! Nicht dass Niklas Hardenberg sonst den Stein einer realen Existenz den Berg hochrollen muss. ( < Ich habe mich hier in etwas Humorigem versucht. Ich betone: versucht.)

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    1. Ich mag deinen Humor. Wahrscheinlich stehst du irgendwann vor mir und antwortest auf meinen etwas irritiert fragenden Blick: "Ich bin Nicola Hardenberg." Und ich frage ganz erstaunt 😲: "Die Schwester von Melissa H.?"

      Womit für mich auch geklärt wäre, wofür das H. in deinem Namen steht.

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