Der Hardenberg-Bericht

Es ist der regnerischste 14. Juli 2021, den ich mir vorstellen kann. Vielleicht wird es demnächst die Wetterstatistik bestätigen - vielleicht aber auch nicht. Ein Tag, den es allzu wichtig zu nehmen nicht lohnt, denke ich erst und antworte auf Auf ask.fm als Klugdiarrhoe: «

Was ist denn hier looos?😱 Wie siehst du denn aus? Was machst du hiieer?

Gleich lach ich mich kaputt :))) Draußen regnet der Jahrhundertregen. Google hat eine Unwetterwarnung rausgegeben und mein vierbeiniger Freund und ich haben den entspanntesten Tag des Jahres im Garten bzw. Gartenhäuschen. Es gibt ein Lied, in dem es heißt: «Selbst die Sintflut dauerte nicht ewig».

Und so sehe ich gerade aus:

Was ist denn hier looos Wie siehst du denn aus Was machst du hiieer 

Ich habe Biermanns Vertonung des Brecht Gedichts aus den Buckower Elegien im Kopf. Und eigentlich möchte ich seit Monaten schon endlich, endlich den Hardenberg-Bericht schreiben, den ich aber nicht so schreiben möchte, wie es die Bürokratie von mir verlangt, die angeblich Kunst und Künstler schützen möchte, sondern wie es mir mein Gewissen gebietet. Mir liegt es ja auf der Zunge zu sagen: mein künstlerisches Gewissen, aber Papperlapapp: Gewissen ist Gewissen - was soll da das künstlerische eine Ausnahme machen? Mir wurde eine Gastresidenz zuteil in einem Tanz- und Choreographiezentrum in Essen. PACT ZOLLVEREIN gilt als «Initiator, Motor und Bühne für wegweisende Entwicklungen in den Bereichen Tanz, Performance, Theater, Medien und Bildende Kunst.» Und ich habe die Ehre gehabt, dort als Gastresident aufgeführt werden zu dürfen in Zeiten der Corona. Viel wurde von mir nicht verlangt, eigentlich ein Traumauftrag für mich, wie ich ihn mir vor rund zwanzig Jahren nicht einmal für meine für ein Hörspiel ausgedachte Figur Niklas Hardenberg zu hoffen gewagt hätte. Da melden sich Bürokraten bei einem grimmigen Individualisten und bieten ihm zehntausend DM an. Natürlich glaubt er nicht an sein Glück, natürlich will er mit diesen Herren der «grauen Norm» nichts zu tun haben und natürlich tauchen sie bei ihm auf und «überzeugen» ihn von dem «Auftrag»! Dieser lässt sich auf die kurze Formel bringen: «Bleiben Sie, wie Sie sind, machen Sie, was Sie bisher gemacht haben und geben Sie das Ergebnis uns!» Niklas Hardenberg sitzt in seiner Wohnung und hämmert auf einer alten mechanischen Schreibmaschine der Marke «Olympia Monica» seinen Roman. Das Hörspiel wird später ein Rundfunkredakteur ein «verwirrendes Spiel um Intertextualität» und ein befreundeter Literat vom Hause promovierter Physiker «lustige Spielereien wie in der Atomphysik» nennen. Und ich bin mir heute sicher, dass ich ihn falsch zitiere. Er fand das Hörspiel zwar lustig und ihm kämen die Ebenenwechsel aus der Atomphysik bekannt vor, aber er drückte sich anders aus - viel sachlicher und mit wohlwollendem Interesse. Und dem Rundfunkredakteur würde ich heute noch am liebsten Schnöselei vorwerfen! Aber das alles ist nah und doch sehr weit entfernt vom Hardenberg-Bericht, der fällig aber nicht fertig wurde. Es hat auch niemand mehr nach ihm verlangt - das rechne ich dem kollegialen Wohlwollen der Kolleginnen und Kollegen vom PACT ZOLLVEREIN an, die mit den Fördermitteln in der Corona-Krise Künstlerinnen und Künstler zu schützen und vor dem Untergang zu retten versuchten und noch versuchen, ohne die bürokratische Gängelei einfach nur weiterzugeben oder sogar durch vorauseilendem Gehorsam zu verstärken. Leider ist dies alles andere als eine Selbstverständlichkeit und muss dem ästhetischen Innovationszentrum hoch angerechnet werden. Die Idee eines solchen ästhetischen Innovationszentrums wurde in der jüngsten Vergangenheit politisch-administrativ an einer anderen Stelle verortet. Die Zukunftsakademie NRW eine Kopftotgeburt. Tief unter der Kopfhaut im limbischen System Verknüpfungen, Verflechtungen, Knoten, Kurzschlüsse, Synapsengewitter, Unwetter. Da kommt etwas nicht zur Ruhe, findet seine Ordnung, seine Mitte nicht.

Aber am heutigen 14. Juli 2021, da es im Ruhrgebiet monsunartig regnet und ich unabhängig davon seit Tagen und Wochen Gedanken entwickle und zu ordnen suche, nehme ich schreibend Bezug auf den Hardenberg-Bericht. Eine literarische Figur, die an die dreißig Jahre durch meine Texte geistert und im oben erwähnten Hörspiel das Licht der Welt erblickte, hat irgendwann die Schnauze voll, in meiner Fiktionswelt gefangen zu sein. Er fordert in meine Realität wechseln zu dürfen - nein! zu wechseln! Und will sich selbst seinen Platz suchen. Er will sich in meiner Realität in der freien Kunst- und Kulturszene umschauen und selbst entscheiden, wo er gerne bleiben möchte. Ein weiteres Literaturprojekt aus meinen Hirnwindungen, eines, in dem ich ankündige, quasi dokumentarisch die freie Kulturszene der Region in seriellem Erzählen unter die Lupe zu nehmen. Und irgendwann fragt mich auf ask.fm jemand, was aus dem Hardenberg-Projekt alias «Die Gesichter des Niklas Hardenberg» geworden sei und wann man mit weiteren Folgen rechnen könne. Darauf kann ich dann zwei Jahre später am 17. August des Jahres 2023 erst antworten: Jetzt.

Gehört das alles nun in den Hardenberg-Bericht: Jemand meint es ernst mit mir, meiner Literatur und mit meinen Projekten? Jemand, der nicht nur liest, sondern mir im Internet folgt? Ich mag diese Vorstellung, obwohl sie auch etwas Unheimliches hat. Niklas Hardenberg würde schon wieder etwas anderes vermuten und am liebsten etwas Paranoides daraus basteln. Oder bin ich das, der ihm so etwas unterstellt und genau deshalb will er nun die Realitätsebene wechseln, um mir zu sagen: "Das Paranoide ist real"? Ich habe Niklas einen Leckerbissen vor die Nase geworfen, um ihn abzulenken. Und das ist ebenfalls im Internet dokumentiert wie mein Masken-Ebenenspiel! Ich verstehe meine Literatur als eine Gedankenurbanität voller Narrationen in einem ideellen Verkehrsnetz. Und Hardenberg ist der Marlowe, der sich durch meinen Betondschungel der Philosopheme durchschlägt.

Was ist Kunst? Was ist Kultur? Was ist Freiheit? Um diese Gedanken und Fragen kreisen meine Schreibereien - mal ehrlich: mindestens seit der Entstehung des Hörspiels mit dem Heiner Müller entlehnten Titel: «Der Auftrag». Natürlich darf sich niemand dem größten deutschen Dramatiker seit Brecht so annähern wie ich es mir herausgenommen habe: ich bin und bleibe ein intertextualisierender Spinner! Na ja, aber falsche Bescheidenheit hat in der Kunstszene auch noch niemandem geholfen! «Anmaßung auch nicht», könnte mein Niklas Hardenberg lästern. Ach Papperlapapp! Fragt mich mal einer, was es für ein Roman sein sollte, den Niklas Hardenberg auf seiner Monica zu tippen versucht? Ich habe im Schreibhaus ein «Archiv für ungeschriebene Texte» gegründet und auf www.Globalkultur.org ein «KulturArchiv-Ruhr»! Letzteres könnte ein Archiv für totgeborene Ideen sein mit einer Abteilung «abgetrieben» und man könnte auch Todesursachen kategorisieren u.a.: «Tod durch Bürokratie»! Aber ich höre auch immer wieder kopfschüttelnde Fragen, ich sehe zweifelnde Gesichter, als wollte man mich bitten, mich deutlicher auszudrücken. Soll ich meine Hoffnungen diesbezüglich auf den Hardenberg-Bericht setzen? Über Brechts Buckower Elegie «Beim Lesen des Horaz» finde ich auf Google:

«In den Buckower Elegien von 1953 heißt es „Beim Lesen des Horaz“: „Selbst die Sintflut / Dauerte nicht ewig“, – aber es ist weniger das Vertrauen in die Veränderung, das zu Wort kommt, vielmehr die bittere Erkenntnis: „wie wenige (Menschen) dauerten länger! “»

Zwei tote Männer mit einer Zigarre im Mund gewichtig sinnierend, aber beide dürr in der Physiognomie. Sie haben beide alles erreicht,  was man erreichen konnte in der Literatur, Liebe und Leben. Und am gestrigen August-Tag, sagt eine Freundin, die mich mit Mann und Hund spontan besucht, um mich in meiner anklingenden Depression zu erheitern, wofür sie über 300 km Autofahrt in Kauf nimmt und ich wirklich gerührt bin, im Garten: "es hörte sich so an, als wolltest du über den Sinn des Lebens philosophieren". Ich nehme Brecht beim Lesen des Horaz und Müller an seinem Herzkranzgefäß in einem Garten schreibend, den ich zu meinem epikureischen Lustgarten und zur Kulturlaube im Kleingartenverein erklärt habe, zum Vorbild: Aber meine Position der Ohnmacht perfektioniert sich in der Erfolgslosigkeit!

Wie überhaupt ist der Erfolg zu definieren? Über ein glückliches Leben oder über gesellschaftliche Anerkennung? Diogenes wäre es wahrscheinlich egal, Epikur würde das glückliche Leben im Garten nehmen, weil gesellschaftlicher Erfolg ihm zu flüchtig und unbefriedigend wäre und Platon würde auf den Fels der Ewigkeit bauen. Heiner und Bertolt setzen auf ihre Erben. Erfolg wäre die Erkenntnis der Idee des Guten, der wahre Blick in den wahrhaftigen Himmel direkt in die Sonne, die die irdischen Augen blendet, den Geist aber erleuchtet, Ikarus kurz vor dem Aufprall.

Um mich - die Großen! in mir die Melancholie; im Sinn der Rest eines Radwechsels à la Brecht. Der Garten so unverschämt grün à la Müller, das Herzkranzgefäß scheint in Ordnung, der Blick in den Abgrund macht mir schon Angst, noch bevor die Finsternis in Sicht ist. Feigling!

Die großen ideellen Projekte - sie überdauern ein Menschenleben nicht nur, sie übersteigen es auch. In tausendundeiner Nacht kann nur im Märchen ein mordender Tyrann von einem Mädchen durch Erzählungen von Saulus zu Paulus bekehrt werden. In unserer Welt wird es mehr als schwer, dass ein Mädchen der vereinten Staatengewalt des Planeten eine menschliche wie ökologische Politik einredet. Einerseits ist es wichtig, die freie Kulturszene in seriellem Erzählen zu reflektieren. Andererseits aber womöglich unmöglich und sinnlos zugleich. Ganz ohne Horaz: Wie wenige dauerten länger! 

Wir, die wir frei sind, frei von allem und frei von Hochmut der Hochkultur, frei von Nasen, die Wolkenduft atmen, frei sogar von Freiheit, schreiben Hörspiele für Gehörlose wie einst die Nachtigall sang für eine Rose.

Einerseits soll Niklas Hardenberg in meine Realität wollen, damit ich eine Chance habe, auch mit seinen Augen, meine Realität zu betrachten. Schließlich sehen vier Augen mehr als zwei, sagt man. Andererseits bahnt sich gleich zu Beginn des Romans ein Konflikt an, da mir auch widerstrebt, Hardenberg in meine Realität zu lassen. Ein künstlicher Konflikt, um eine dialektisch antithetische Dramaturgie aufzubauen? Vier Augen sehen nur dann mehr, wenn beide Augenpaare in ihrer Souveränität verbürgt sind. Wie aber soll das der Fall sein, wenn Hardenberg meine Fiktion ist und bleibt?

Vielleicht liegt aber auch der Gedanke nahe, dass ich ohnehin nicht wüsste, an welchem Roman meine Figur aus dem «Auftrag» gearbeitet hat, so sei ja ein «Archiv ungeschriebener Texte» leicht zu füllen! Mitnichten! Lesen Sie auf Seite 3 meines «Auftrags»: Der Roman wird benannt und es wird ihm prophezeit, dass er auf dem Flohmarkt mit Spannung erwartet werden wird. Zugleich ist das Hörspiel auch das Exposé des Romans: «Platon in Ödipus ́ Augenhöhlen!» So manch ein Mal habe ich mich gefragt, ob der Titel nicht falsch gewählt sei! Denn die Höhle ist ja Platons Gleichnis auf transzendente Erkenntnis und Schlaumeier verkürzen diese großartige Metapher auf die Metaphysik auf die Vorwegnahme der heutigen Medientheorie! Als könnte der Kinosaal oder das Theater eine platonische Höhle sein! Die platonische Höhle ist unser Leben! So säkularisiert die Moderne die klassische Metaphysik, deren populistische Vereinfachung das Christentum ist und überhöht sich zugleich selbst zur ewigen Wahrheit der positiven Wissenschaft, deren verlängerter und wirkungsvoller Arm die Technologie ist. Es handelt sich um eine Moderne, die sich aus mittelalterlich rationalistischer Scholastik und mechanistischer Technologie zusammensetzt, die als «Himmelsmechanik» in der Astronomie selbst Newton zu unheimlich, weil steif, wurde. Newton ahnte, dass der Himmel als Kosmos nicht mechanisch aufgebaut ist. Wenn wir Platons Idealismus mit moderner Mathematik verknüpfen, können wir die dreidimensionale Welt, in der wir leben, als die Schattenwelt der vierten Dimension «verstehen», so wie die dreidimensionale Welt zweidimensionale Schatten wirft.

Gewiss werde ich im Hardenberg-Bericht auf diese Problematik nicht auch noch eingehen. Im SOKRATES-ROMAN jedoch versuche ich mit Gaston de Pawlowski mich an das Unvorstellbare anzunähern. Ja, ich muss zugeben, dass mein persönliches Vorstellungsvermögen nicht ausreicht, mir vierdimensionale Körper wie Tesserakte vorzustellen. Ein Tesserakt erscheint mir wie eine rationalistische Projektion eines Würfels in die vierte Dimension und ist so blutleer wie Catwoman auf einem Filmplakat. Aber hier erwähne ich meine Frage, die mich beschäftigt hat, seit ich mir den Roman-Titel für Niklas Hardenbergs Roman ausgedacht habe: Müsste es nicht besser: Ödipus in Platons Augenhöhle heißen? Dann auch im Singular und nicht im Plural? Ödipus, der radikale Wahrheitssucher, der die Selbstzerstörung nicht scheut, um Erkenntnis zu gewinnen! Eigentlich kommt man in den Hohlraum unter der Schädeldecke durch zwei höhlenartige Eingänge und befindet sich dann in einem neuronalen Labyrinth von Axons, Dendriten, Synapsen und synaptischen Spalten, schwimmt in Transmitterströmen, badet in Gedankenflüssen. Die Reise durch das Ich oder das Selbst oder was auch immer kann beginnen! Und Ödipus ist Odysseus, der Seefahrer, der durch Irrungen und Wirrungen nachhause findet.

Das aber wäre eine Reise nach Innen. Das Hardenberg-Projekt hingegen versprach eine Reise nach außen, zu freien Spielstätten, zu freien Theatergruppen, zu Literaturhäusern, zu Illusionen technokratischer Bezirzungen. Und in diesem Kontext als Bezugssystem wäre auch der Hardenberg-Bericht fällig geworden. Es entstand eine Liste. Am Anfang stand eigentlich das Ende, das Katakomben-Theater im Girardethaus, von hier aus sollte das Hardenberg-Projekt in die Welt hinaus, hier steht der Dichter auf der Bühne, auf den Brettern, die eine Frage nur zulassen: wann verlor die Arbeit ihre Unschuld? Was ist aus der Welt bloß geworden? Eine einzige große Entfremdung ist sie und es ist nicht nur ein philosophischer Ausruf, den Nietzsche tätigt: wir sind uns fremd, wir Erkennenden - wir selbst uns selbst! Wenn wir uns die Subjekt-Objekt-Verbindungen im Zusammenhang mit der Wirklichkeit und der dialektischen Einheit dieser drei Begriffe anschauen, bekommt die Fremdheit sich selbst gegenüber ein ganz anderes, besonderes Gewicht. Der Dichter wird von seinem Erdichteten bedrängt. Und noch ist es eine Maske nur! Aber es will seinen Platz! Seinen Platz in der freien Kulturszene, in jener Welt, die Hardenberg gleich seinem Schöpfer für die wirkliche hält. 

Und dann gibt es da noch Fragen: existieren die ungeschriebenen Texte oder existieren sie nicht? Können sie ein Archiv füllen? Wenn ja, wie? Vorausgesetzt, dass die «freie Kulturszene» nur eine Fata Morgana in der technokratischen Wüste, sozusagen eine Heißluftspiegelung, müssen wir noch ein kräftiges Stück gehen und irren, bis wir auf eine Oase stoßen. Diese Feststellung aber macht den Hardenberg-Bericht nicht überflüssig. Ganz im Gegenteil! 

Die Wirklichkeit aber ist nie eine neutrale und an sich seiende Wirklichkeit, auch wenn dies schon oft besprochen wurde und in die Erkenntnistheorie eingegangen ist, bleibt es leider oft eben nur «Theorie», es wird nicht lebendig realisiert und geht nicht in die Lebens- und Urteilspraxis im Alltag ein. Die Wirklichkeit ist immer eine Konstitution aus dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Objekt. Nichts kann alleine für sich Wirklichkeit sein, denn es fehlt worauf es wirkt und wovon seine Wirkung empfangen wird. «Esse est percipi»! Wir können Wirklichkeit als einen Signal- bzw. Energieaustausch verstehen. Dieser Austausch aber ist wechselseitig, multilateral. Das müsste im Hardenberg-Bericht festgehalten werden. Aber es ist noch abstrakt. Benötigt wird eine Konkretisierung, und ich werde dies nicht mit Schrödingers Katze versuchen, sondern mit meinen Hundespaziergängen. Die Wirklichkeit dieser Spaziergänge ist eine energetische und eine synergetische Vielfalt. Viele Faktoren spielen eine Rolle und prägen den Begriff des «Spaziergangs». Und die Wirklichkeit des Spaziergangs steckt nicht ausschließlich im Begriff, sondern entsteht erst durch Verwirklichung einzelner Spaziergänge. Die Summe der Spaziergangserfahrungen lässt ein Muster entstehen, das den Begriff mit Vorstellungen füllt und prägt. Aber auch dieser Begriff selbst prägt weitere Erfahrungsmuster. Vorstellungen sind energetische Entitäten. Sie sind nicht passiv, sie strahlen aus. Damit beeinflussen sie ihr Umfeld. Und das Umfeld beeinflusst die Vorstellungen. Es gibt eine Resonanz zwischen Subjekt und Objekt. Und in dieser Resonanz entsteht die Wirklichkeit. Sie ist eine emergente Zusammenfügung von Erwartungen, Befürchtungen, Vorurteilen und deren Resonanzen aus der Objektivität. Mit anderen Worten: wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück. Das Sein der Wirklichkeit im Echolot. Die Wirklichkeit entsteht in der dialektischen Wechselwirkung von Subjekt und Objekt und ist nie die eine für alle gleiche, sondern eine vielfältige. So wie eben Subjekte verschieden sind, die ihre wahrnehmende Energie in die Objektivität ausstrahlen. Doch ist damit keinesfalls gesagt, dass Wirklichkeit subjektiv willkürlich generiert ist. Die Differenzen zwischen Illusion, Traum, Wahn, Täuschung und Realität bleiben. Denn würde man aus dem oben Gesagten auf die willkürliche Beliebigkeit der Wirklichkeitskonstitution schließen, hätte man die Objektivität, die nach wahrnehmendem Subjekt mitschwingt, außeracht gelassen. Zudem ist zu bemerken, dass sowohl die Ausstrahlungen anderer Subjekte jene Objektivität mitprägen, die ich wahrnehme, als auch mein eigenes Echolot von mir nicht komplett bewusst gesteuert wird. Ich habe die Frequenzen meiner wahrnehmenden Ausstrahlung nicht in der Hand. Es kursieren auch Vorstellungen unter dem Etikett «Gesetz der Resonanz», wonach man mit seinen eigenen negativen Energien wie tiefen Ängsten aus dem Universum Negatives anzieht, so dass was man am meisten und zutiefst befürchtet, auch eintrifft. Ich möchte das weniger kosmologisch und mehr pragmatisch wiederholen. Wenn ich ängstlich Auto fahre, bin ich unsicher, manchmal unentschlossen, verunsichere andere und führe zu Fehleinschätzungen oder erhöhe meine eigene Fehlerwahrscheinlichkeit. Nicht viel anders ist es mit anderen Unternehmungen; überall, wo meine habituelle Erscheinung eine größere Rolle spielt, kommuniziere ich unbewusst Unsicherheit, ob es bei Kundenakquise oder Bewerbungsgesprächen ist. So kann subjektive Negativität ihre objektive Bestätigung und Verstärkung in meiner Umwelt finden.

Die Hundespaziergänge verändern im Laufe der Zeit mit der Summe der gesammelten Erfahrungen ihren Charakter. Als ich Diego, meinen Hundefreund kennenlernte, war er schon mit seinen eineinhalb Jahren im Flegelalter. Ein kraftstrotzender, prächtiger großer Mischling in Weiß mit blauen Augen, einem bulligen breiten Kopf und einem kräftigen Brustkorb mit einem Gewicht von gut und gerne vierzig Kilo. Schon unsere erste Begegnung war spielerisch. Er sprang mich freudig, neugierig an, war kontaktfreudig und ließ sich schnell animieren,  mit ihm Fußball zu spielen. Vielleicht aber auch animierte er mich und wir waren sofort Freunde. Allein diese erste Begegnung hätte auch anders verlaufen und unser Verhältnis anders prägen und damit zu einer anderen Wirklichkeit führen können. Die Tagesstimmung von uns beiden, ein Eingreifen der Besitzerin, ein schmerzhafter Unfall und der Verlauf der Beziehung wäre eine andere. Aber es war, wie es war und am Ende sieht es so aus, als hätte es gar nicht anders kommen können. Wir freundeten uns sofort an. Natürlich spielt die Prädisposition von uns eine Rolle: meine liebhaberische Offenheit und seine Menschenfreundlichkeit waren wichtige begünstigende Faktoren, legten die Grundlage für die Wirklichkeit unserer Beziehung. Weder ich hatte negative Erfahrungen mit Hunden noch Diego mit Menschen. Behütet und liebevoll umsorgt war er herangewachsen, hatte überschäumende Energie, vitale Neugier und einen ungebremsten Spieltrieb, bereit mit mir in Begleitung die Welt zu erkunden. Hätte man ihm im Heranwachsen Schmerzen zugefügt, ihn Hunger leiden lassen oder ihn ohne Fürsorge sich selbst überlassen, wäre unsere Begegnung anders verlaufen, die Entwicklung hätte einen anderen Verlauf genommen. Diese Dinge hingen also nicht von meiner subjektiven Willkür ab. Sie hingen überhaupt nicht von mir ab; ich aber hatte nun die Möglichkeit diesen jungen Hund in seinen Eigenschaften und Interessen wahrzunehmen und mich auf ihn einzustellen. Auch da hätten die Dinge anders verlaufen können; ich hätte auf seine Unbändigkeit mit Ungeduld oder unnötiger Strenge und Schärfe reagieren können, ihn züchtigen, übermäßig kontrollieren und disziplinieren. Das hätte gewiss zu anderen Entwicklungen bei Diego geführt. Ich spürte aber in Diego einen für mich neuen Zugang zur Welt. Dies wiederum hatte etwas mit meinen eigenen Voraussetzungen, Prädispositionen, mit meinen Fragestellungen und meiner Gestimmtheit zu tun, strahlte aber etwas aus, was Diego beeinflusste. Er reagierte auf diese Dinge, die ich ausstrahlte. An dieser Stelle möchte ich eine Anekdote aus unserem wachsenden Verhältnis erzählen. An einem Winterabend, es war noch nicht spät, aber schon dunkel, machten wir uns auf den Weg zum Baumarkt. Ich wollte Brennholz für den Ofen und Kohlen kaufen und dies zugleich mit einem Spaziergang verbinden, nahm einen großen Seerucksack mit. Unser Weg führte ein Stück an der Straße, dann durch einen Park. Der Weg an der Straße verleitete Diego jedes Mal zum heftigen Ziehen an der Leine, weil er so viele Geruchseindrücke hatte, die ihn in Aufregung versetzten. Seiner Kraft nicht bewusst, zog er und zerrte nicht absichtlich und schon gar nicht, um mir den Gang schwer zu machen, sondern eben weil er aufgeregt schnell von einer Schnüffelstelle zur nächsten Eilen wollte. Es war für mich zwar anstrengend und auch immer wieder mit kleinen Ermahnungen an meinen Freund verbunden, aber durchaus machbar, wobei ich mich aber fragte, wie der Rückweg mit dem schweren Gepäck wohl werden würde. Zunächst aber stand uns noch der Gang durch den Baumarkt bevor. Hunde durften zwar in den Baumarkt, aber sie jedes Regal wild abschnuppern zu lassen, war wohl nicht vorgesehen. Ein bisschen begann ich an der Unternehmung zu zweifeln und so erreichten wir langsam die Straße, an der mein Freund frei durch den Park und über die Wiese rennend wieder an die Leine musste, und zwar dieses Mal an die Kurze Leine, denn auch der Parkplatz des Baumarktes war schon so gut wie erreicht. Zu aufgeregt und neugierig mein Freund, zog und zerrte er in jede Richtung, aus der es ihm interessant in die Nase wehte. So gingen wir in den Baumarkt, kamen erfolgreich an den ersten Regalen vorbei bis zu einem kleinen aufgebauten Springbrunnen, wo er sich nicht nehmen ließ von den Wasser zu schlabbern. Ein Verkäufer, der vorbeiging scherzte: «wir nehmen immer destilliertes Wasser!» An der Kasse wurden meinem Freund Leckerchen angeboten, die er ablehnte und als wir wieder draußen waren, war es inzwischen stockdunkel. Mit schwerem Gepäck und dem aufgeregten kräftigen Vierbeiner erreichte ich den Park, wo ich ihn wieder von der Leine ließ, was mir im ersten Moment Erleichterung war, bis er rennend aus Sichtweite kam und irgendwo in Gebüsch und Dunkelheit verschwand. Ich setzte mein Gepäck ab, um zu warten, aber nach einer Weile wurde mir die Zeit zu lang. Also begann ich Diego zu rufen - doch vergebens. Diego blieb in der Finsternis verschwunden. Ich rief ihn immer wieder und immer trauriger und entmutigter. Aber niemand kam. Ein paar Schritte von mir entfernt, sah ich eine Parkbank. Ich wollte mich entmutigt und traurig hinsetzen und nachdenken, was ich nun tun konnte. Ich war endlos traurig, mir war nach Heulen zumute. Ich nahm mein Gepäck wieder auf und ging zur Parkbank. Kaum hatte ich niedergeschlagen meinen schweren mit Holz und Kohlen beladenen Seerucksack und zwei weitere Säcke Holz an der Bank abgestellt spürte ich eine Nase an meinem Bein: da stand Diego, neugierig, was ich vorhatte und mit einem Blick, als wollte er sagen: sei doch nicht traurig und besorgt. Ich tröste dich. Unbeschreiblich erleichtert, froh und gerührt setzten wir einer kurzen Pause unseren Weg fort, und ich hatte das Gefühl, als würde Diego viel, viel weniger ziehen und mir in seinem Verhalten sehr entgegenkommen. Es war ein Teamgeist und Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen uns entstanden, was unverbrüchlich war und von Mal zu Mal wuchs. Ich konnte Diego immer mehr vertrauen und ihn losleinen und er dankte es mir durch seine Zuverlässigkeit und Verbundenheit.

Der Hardenberg-Bericht wird diese Dinge und einige, die thematisch sehr eng damit verwandt sind, aber weit mehr ins Menschliche gehen, nicht enthalten. Scheinfreundschaften, Narzissmus, künstlerische Eitelkeit, Neid, Opportunismus müssten haargenau beschrieben werden, was den Bericht vollkommen sprengen, ja vernichten würde. Aber im Zusammenhang mit dem Hardenberg-Bericht wäre zu fragen, ob diese menschlichen Dimensionen in der Szene als eine Facette dieser Szene nicht Teil der seriellen Erzählung werden könnten, ja sogar werden müssten! Die literarische Vielschichtigkeit der Erzählung war zwar in der Projektbeschreibung nicht explizit angegeben, aber doch in gewisser Weise stillschweigend vorausgesetzt. Wäre das nicht die Chance, die Komplexität der Zusammenhänge literarisch widerzuspiegeln? Kann es wenige Sätze geben, die dies im Bericht andeuten?

Freiheit ist, was ich von Diego oder besser durch die Reflexion der Spaziergänge mit ihm gelernt habe, nicht ein Widerspruch zur Zusammengehörigkeit und Verbundenheit. Weder die Leine noch meine hinweisenden Rufe, die längst weit entfernt vom Charakter der Kommandos sind, widersprechen unserem Freiheitsgefühl. Freiheit realisiert sich in der gemeinsamen Befriedigung unserer Bedürfnisse im Zusammenspiel. Diego an belebten, verkehrsreichen Straßen und Kreuzungen oder in der nähe von Bahngleisen und Autobahnen von der Leine zu lassen, würde ihm keine Freiheit, sondern ihn in Gefahr bringen. 

Vielleicht müsste der Hardenberg-Bericht eine «Psychologie der Ereignisse» enthalten und diese auch erläutern. Und natürlich würde dies den Umfang des Berichts sprengen. Und erst recht wäre eine Fragwürdigkeit aufgeworfen, wenn ich von der «Psychologie der Gegenstände» spräche. Käme ich dann nicht in den Bereich des Totemismus? Oder anders gefragt: wenn ich mir das ganze Universum und darin die Welt als beseelt vorstelle, muss ich von demselben Seelen-Begriff ausgehen, wie ihn mir die monotheistischen Religionen vorgeben? Kann «Seele» nicht astrophysikalisch als Strahlung paraphrasiert werden?

Im Foyer des Katakomben-Theaters beginnt der gespielte Zweikampf - er gehört unbedingt in den Hardenberg-Bericht. Die Grabstätte der freien Kulturarbeit als Austragungsort der ersten Runde des Zweikampfes zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Es gehört auch in den Bericht, dass Täuschungen, Illusionen und Enttäuschungen sich auf einen Ort konzentrieren und sich an diesem aufzeigen und erzählen lassen können, aber der Bericht muss kurz ausfallen. Was hat der Dichter, in den paar Monaten, in denen sich der Staat ihm wohlwollend zuwandte, getan? War es die Förderung wert? Oder juristisch besser und griffiger formuliert: wurde die Förderung sachgemäß verwendet? Darauf muss der Hardenberg-Bericht kurz und präzise Antwort geben, die Mittelgeber haben einen Anspruch darauf. Was aber, wenn dabei noch mehr eine andere Frage entstand: Was ist frei an der freien Kulturszene? Was macht ihre Freiheit zu einer besonderen, die doch mehr sein sollte als die in der Verfassung garantierte Freiheit der Kunst neben der der Meinung und der Religion, der Versammlung oder der Reise. Denn diese Freiheit kommt der gesamten Kulturszene zu, allen Theatern, Medien, Kunstgattungen. Warum also gibt es daneben noch eine besondere Szene, die sich die "freie Kulturszene" nennt? An dieser Frage blieb ich hängen, obwohl alles zauberhaft und schwungvoll anfing mit einem Antrag auf individuelle Künstlerförderung. Woher aber nahm ich diesen Schwung?

Ein Tag nur Starkregen. Nicht eine Woche, nicht vier! Die Bilanz hat katastrophale Ausmaße. An die Sechzig Tote, mehrere Hundert Vermisste... ich habe meinen Vater im Ohr, wie er bewundernd und fasziniert von der Stuttgarter Kanalisation erzählte, als er im Tiefbauamt als Landvermesser arbeitete. Ihm war, als wäre er unterirdischen Pyramiden begegnet. Ich stellte mir dunkle Höhlen, Labyrinthe und darin Kloakenbäche vor, die bei Regen anschwollen und zu reißenden Strömen wurden, worin Horden von Ratten lebten. Diese Kanalisation aber sorgte überirdisch für ein geordnetes trockenes Leben in der Stadt. Wichtig und eindringlich war für mich die Faszination in der Stimme meines Vaters. Menschen hatten etwas Beeindruckendes und schier Wundervolles erschaffen, auch wenn es für mich «nur» unterirdische Labyrinthe für Kloaken und Ratten waren. Aber die Zivilisation hatte etwas gegen Naturgewalten geschaffen und der Stolz meines Vaters darauf war unverkennbar. Er war ein Ingenieur mit Leib und Seele, das Studium hatte ihm eine Lebensperspektive gegeben, ja mehr noch: es hatte ihm eine Lebensform geschaffen, ihn aus dem Ländlichen, Bäuerlichen in die «städtische Zivilisation der Moderne» transportiert. Kartoffel-, Getreide-, oder Spinatanbau gehörten der Vergangenheit seiner Kindheit an, wenngleich der Spinat sein Lieblingsgemüse bis zum Tod blieb. Nur wenige dauerten länger. Erinnerungen. 

Ich frage mich mehr als Hardenberg, für den ja Scheherazade nur eine «blöde Kuh» ist, welche Möglichkeiten es geben könnte, die der Realität näher kommen. Einer Realität, die es natürlich nicht gibt. Ich glaube nicht an Märchen - jedenfalls nicht in naiv realistischem Sinne. Aber das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, Traum und Wirklichkeit oder Wunsch und Erfüllung hat mich scheinbar schon immer interessiert. Gehört das alles in den Hardenberg-Bericht? Mitnichten! Er soll kurz und überschaubar sein, griffig und abheftbar, ein Teil der Abrechnung, des «Verwendungsnachweises», wie es bürokratisch heißt. Eben ein Synonym für das moderne Leben. Der erste Satz des Berichts kann unmöglich «Scheherazade war eine blöde Kuh» lauten! Schließlich war ich im Trailer voll des Lobes für die junge Frau. 

«nur»

Bertolt Brecht: „Dauerten wir unendlich“

Dauerten wir unendlich | Wären wir Götter
So wandelte sich alles | Wäre alles anders
Da wir aber endlich sind | Da wir aber menschlich sind
Bleibt vieles beim alten.

„Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug“.

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