Die Sinnfrage

Die Sinnfrage

Und die große Melancholie

In einer Email an eine sehr gute Freundin habe ich es in der Betreffzeile formuliert, nur in der Kommunikation und in konkreten auf Kommunikationssituationen bezogenen Momenten fallen mir die Formulierungen ein, die ich für mein Anliegen für die besten halte. Ich relativiere und kontextualisiere - ich glaube, darin bin ich ein Moderner. Ich versuche, die verwendeten Begriffe verstehbar zu machen. Ich expliziere und definiere, beschreibe und gebe Beispiele oder entwickle Metaphern, Symbole, Gleichnisse, aber der Trauer, die mich erfasst hat, werde ich nicht Herr. Die Betreffzeile jedenfalls lautet: «Existenzielle Albernheit und Sinn-Hermeneutik». Nachträglich kann ich das ausbauen: Naturlich geht es bei der Hermeneutik immer um Sinn, Sinnsuche, um Sinn-Findung im Dienste der Kunst des Verstehens dessen, was als Text oder Kunstwerk vorliegt. Irgendwann zugespitzt auf die Erwartung, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Da denke ich mir: so schwer kann das nicht sein, als Außenstehender versteht man den anderen immer besser als er sich selbst verstehen kann. Auch das ist natürlich nicht ganz zutreffend: wir können uns und andere erst recht gehörig missverstehen.

Mit dem Lebensabend stellt sich die sehr beunruhigende Frage ein, die quasi ein Luxusgut meines Wohlbefindens ist, ob ich den Tag nicht vertrödelt habe!

Erst beschäftigte mich die Frage theoretisch in einer etwas anderen Form als Literatur... wissenschaftler möchte ich nicht sagen, weil mir "Wissenschaft" zuwider geworden ist, da wäre ja "Germanist" noch neutral, also kann ich aber um nicht in einer universitären Fakultät zu landen, der ich nicht zugehöre (Nietzsche sprach von sich mal als "Philologe, Mann der Worte", also kann ich mich selbst ja halbwegs beruhigt als "Hermeneut" bezeichnen, da ich mich doch wirklich und redlich um Verständnis bemühe - auch, wenn es den Eindruck erwecken kann, dass ich mich im hermeneutischen Zirkel im Kreis drehe.

Mich beschäftigte also die Frage, warum Georg Büchners Danton und William Shakespeares Hamlet in Melancholie verfallen. Die Melancholie der beiden lässt sich sehr gut parallelisieren und hat etwas Rührendes und Bewegendes, aber restlos erklären lässt sie sich nicht, auch wenn Sigmund Freud in seinem "Abriss der Psychoanalyse" ein therapeutisch-populistisches Erklärungsmuster für Hamlet geliefert hat: er könne den Mord an seinem Vater deshalb nicht rächen und sei gehemmt, weil er sich unbewusst mit dem Mörder identifiziere und am liebsten selbst nach dem Muster des Ödipuskomplexes den Vater umgebracht und die Mutter geheiratet hätte.

Ich lasse das so stehen; mich interessiert kein Erklärungsstreit um Sigmund Freud, sondern Hamlets Melancholie und die Parallele, die ich bei Georg Büchners Danton sehe. Hamlet begegnet ein Gespenst und eröffnet ihm Gespenstisches. Das Gespenst sieht seinem vor etwa zwei Monaten verstorbenen Vater ähnlich, von dem die offizielle Todesursache als ein giftiger Skorpionsstich genannt wird. Nun aber sagt das Gespenst dem trauernden Sohn: er sei im Schlaf durch ein in sein Ohr geträufeltes Gift ermordet worden. Und Hamlet, der mit Gram das Treiben bei Hofe nach dem Tod des Königs beobachtete und seine Trauer nicht ablegen konnte noch mochte, antwortet auf diese gespenstische Eröffnung: "Oh mein prophetisches Gemüt!", als ob er geahnt hätte, dass im Staate Dänemark etwas faul sei. Das ist die zu heute ziehende Parallele: nicht nur Shakespeares fiktiver Hamletstaat ist  von Fäulnis befallen, sondern weltweit das Staatensystem überhaupt! Und soweit sind wir von der Realität entfernt in Utopia: eine Alternative zu den Staaten und der Staatlichkeit überhaupt ist nirgends in Sicht.

Und wenn man der Fäulnis alternativlos gewahr wird, die Kriege, die Umweltzerstörung, die Willkür der Bürokraten hinter technokratischen Rationalismen und Begründungen spürt, kann man schon in Melancholie verfallen, da es ganz offensichtlich zu ändern nichts gibt. Das Individuum ist ohnmächtig und ich als Individuum, als das ich die Welt in solcher Aussichtslosigkeit nie zuvor gesehen habe, bin dem Weltschmerz, sprich der Melancholie verfallen. 

Nun kommt aber ein Nachtrag hinzu: ich bin in meiner Melancholie nicht allein und ebensowenig im Bestreben, in dieser Melancholie nicht tatenlos den Kopf zu verlieren. Durchaus wörtlich auch als Enthauptung zu verstehen. Ich kann ein Netz von Philosophen, Soziologen, Politologen, Künstlern, Initiativen benennen und beabsichtige nicht nur, das auch zu tun, sondern auch dieses Netzwerk mit Impulsen zu beleben. Das wird die versteinerte Realität elektrisieren, "wie Dr. Frankenstein die zusammengesetzten Leichenteile aus dem Friedhof durch einen abgeleiteten einschlagenden Blitz zu beleben suchte und ein Monster erschuf", flüstert mein Pessimismus, vielleicht aber pulsiert wahres Leben jenseits meiner Rationalität und ich kann sie freudenvoll, trunken vor Glück wie Hölderlins holden Schwäne oder wie Schillers Feuertrunkenheit berühren. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagte ich, und ein Freund antwortete am Telefon, aber sie stirbt auch. Jedes lebendige Wesen stirbt, nut Fossilien sterben nicht. Eines Tages werden wir sterben, sagt Charlie Brown, aber alle anderen Tage nicht, sagt Snoopy. Das ist ein Stück wahrhafte Kynosophie. Denn er sagt nicht: an allen anderen Tagen leben wir. Denn leben ist schon noch etwas Besonderes. Snoopys Erkenntnis könnte uns dem Leben ein Stück näher bringen - darf ich an Adorno erinnern? - dem Leben im Richtigen näher bringen. 

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